Utopien für Realisten

Utopien für Realisten- Rutger Bregman

"Wir leben in einer Ära des Wohlstands und des Überflusses, aber es ist eine freudlose Ära" (S. 15). Bregman ruft seine Leser auf utopisch zu denken, denn trotz Wohlstand gibt es für die Menschheit noch unerreichte Ziele zu verfolgen.  Man bedenke, dass das Wahlrecht der Frauen, die Ehe für Homosexuelle, ja selbst die Vorstellung einer Demokratie vor einigen Jahren noch belächelt wurden.

Bregman’s Aussage "für jeden Antrag auf Unterstützung gibt es ein entwürdigendes Verfahren, das sehr viel Geld verschlingt» (S. 117), kann ich unterschreiben. Auch hier in der Schweiz steht Bürokratie und Kontrolle im Rahmen der Sozialhilfe im Vordergrund, was die Betroffenen daran hindert, eine Lösungsstrategie für ihr eigentliches Problem zu finden. Ich selbst arbeitete auf dem Sozialdienst und erlebte mit, wie sehr das Ausfüllen von Formularen oder lange Wartezeiten aufgrund komplizierter Vorgehensweisen und Entscheidungsprozessen das eigentliche Problem der betroffenen Person verdrängte. Und ja, auch in der Schweiz werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer.

"Wir können uns des ganzen bürokratischen Apparats entledigen, dessen einziger Zweck darin besteht, Sozialhilfeempfänger um jeden Preis in Jobs mit geringer Produktivität zu zwingen" (S. 54). Und wie soll das funktionieren? Mit der Einführung eines Grundeinkommens: Jeder Mann und jede Frau erhalten einen Mindestlohn ohne Gegenleistung ausbezahlt. Denn bereits das Mincome-Experiment von 1973 in Kanada bewies, dass damit effizient, effektiv und relativ billig, die Armut bekämpft werden kann. Auch weitere Beispiele können bezeugen, dass, wenn man den Armen radikalere Hilfe leistet, der daraus entstehende Erfolg, wirtschaftlich sowie auch sozial betrachtet, nachhaltiger ist. Beispielweise die Massnahmen des Bundestaates Utah, welcher Obdachlosen ohne Gegenleistung Wohnungen anbot. Die Kosteneffizienz direkter Geldauszahlungen statt kleiner staatlichen Schubser, welche mit Kontrolle und Überwachung verbunden sind, zeigt sich besonders in den Folgen der Armutsbekämpfung: Es gibt weniger soziale Probleme (Kriminalität, Fettleibigkeit, Depressionen usw.). "Die Armutsbekämpfung entlastet nicht nur unser Gewissen, sondern auch unsere Brieftasche" (S. 90). Letztendlich werden soziale Probleme nicht nur von Geld, sondern auch von einem zu hohen Mass an gesellschaftlicher (Chancen-)Ungleichheit ausgelöst. Eine gewisse Ungleichheit ist gerechtfertigt, da ein Arzt, welcher lange studiert hat und eine wichtige Verantwortung trägt, nicht gleich viel wie eine Putzfrau verdienen soll. Wer möchte dann noch Arzt der Ärztin werden? Doch Länder wie Amerika oder auch die Schweiz weisen, trotz stabilen BIP-Zahlen, eine hohe Ungleichheit bzw. Ungerechtigkeit auf.

"Wer das BIP misst, versucht eine Idee zu messen" (S. 136), denn das BIP ist eine komplexe Berechnung, welche teilweise auf subjektiven Entscheidungen basiert, sowie nur die Wirtschaftlichkeit eines Landes, aber nicht das Wohlergehen dessen Bevölkerung aufzeigt. Viele Menschen arbeiten mehrere Stunden am Tag, fünf oder sechs Tage die Woche, aber erhalten oftmals keine gerechte Entschädigung.

Ford aus der Automobilbranche und Kellogg, ein grosser Cornflakes-Produzent, haben die Arbeitsstunden ihrer Mitarbeiter verkürzt (pro Tag sechs Stunden). Seither gab es weniger Unfälle und die Produktivität viel besser aus, weshalb derselbe Lohn wie zuvor für weniger Stunden bezahlt werden konnte! Die Verkürzung der Arbeitsstunden würden laut Bregman Stress reduzieren, dem Klimawandel entgegenwirken, Fehler und Unfälle auf der Arbeit würden abnehmen, die Anzahl an Arbeitslosen würden sinken, Gleichstellung zwischen Mann und Frau (auch im Haushalt) wird gefördert, es gäbe mehr Elternzeit usw.

 

Und "Wenn wir wollen, dass in diesem Jahrhundert alle Menschen reicher werden, müssen wir das Dogma über Bord werfen, jede Arbeit sei sinnvoll." (S. 200/201).

Der Technologische Fortschritt brachte die voranschreitende Globalisierung mit sich. Luxuriös, aber: "Je näher die Welt zusammenrückt, desto kleiner wird die Zahl der Gewinner" (S. 212), da Kleinere oder mittlere Unternehmen im Wettbewerb gegen die Grossproduzenten, welche mit tiefen Preisen markten, nicht mithalten können. So geraten immer mehr Menschen aus der Mittelschicht in die tiefere Unterschicht oder versinken gar in Armut, während sich die Taschen der grossen CEO’s praktisch von selbst füllen. Diese reichen Nasen verwalten ihr Geld so, dass sie keinen einzigen Tag ihres restlichen Lebens einen Finger krumm machen müssen. Sie legen ihr Geld in den richtigen Ländern bei den richtigen Banken an, damit sie möglichst wenig Steuern zahlen müssen. Und als Staat kommt man diesen Reichen möglichst entgegen, da diese einen beachtlichen Teil der Steuereinnahmen ausmachen. Deshalb meint Bregman: "Massnahmen gegen Steueroasen würden möglicherweise sehr viel mehr bewirken als alle gutgemeinten Hilfsprogramme" (S. 248).

 

"Eine Öffnung der Grenzen (...) wäre die bei weitem wirksamste Waffe im globalen Kampf gegen die Armut" (S. 258), da es weniger illegale Einwanderer und weniger (kostenaufwändigere) Grenzkontrollen geben würde. Einwanderer/Einwanderinnen nehmen uns nicht die Arbeitsplätze weg, wie so viele behaupten. Im Gegenteil: Sie sind neue Konsumenten und erhöhen den Arbeitsbedarf. So könnte die Geldverteilung auf der Welt zu einem grossen Teil ausgeglichen werden. Denn Untersuchungen zeigten, dass viele Einwanderer/Einwanderinnen, sobald sich ihnen die Möglichkeit bietet, in ihr Heimatland zurückgehen und dort das verdiente Geld sinnvoll investieren, indem sie beispielweise Arbeitsplätze schaffen.

 

Doch linke Politiker wagen nicht radikal zu politisieren, da viele Länder in den letzten Jahren einen Rechtsrutsch erlebt haben. So fürchten sie immer mehr, dass sie abgewählt werden, falls sie zu radikale Ideen präsentieren. Darum versuchen diese sogenannten "Underdog-Sozialisten" die rechte Politik lediglich auszubremsen, statt sich ihr zu erheben (vgl. S. 296). Ich kann nicht bezeugen, dass die Linke der Schweiz, keine radikale oder beinahe utopische Referenden vor das Volk bringt. Bregman würde die radikale Politik der schweizerischen Linken vermutlich begrüssen, aber dies bringt nichts, wenn sich das Volk mit den Ideen nicht identifizieren kann. Deshalb steht für mich an erster Stelle das Aufklären der Bevölkerung, Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung für gewisse Themen, da gerade nach diesem gesellschaftlichen Rechtsrutsch politische Erneuerungsvorschläge der Linken nur kopfschüttelnd belächelt und abgelehnt werden.

 

Kommentar:

Ich fand das Buch bombastisch gut. Es ist sehr leserlich aufgebaut und die Themen fliessen ineinander ein. Es braucht so gut wie kein Vorwissen, da sich Bregman immer wieder auf reale Beispiele aus der Vergangenheit bezieht, was seine Gedanken erst recht nachvollziehbar macht. Es gab zwischendurch Passagen, welche mich etwas weniger interessierten, da Bregman weit zurück in die Vergangenheit greift und für meinen Geschmack etwas zu ausführlich erklärt hat. Grundsätzlich empfehle ich das Buch jedem und jeder weiter.

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