Ich bin Linus

 

Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war - Linus Giese

 

Linus erzählt, wie er sich im Alter von einunddreissig Jahren geoutet und wie sich sein Leben dadurch verändert hat. Er zeigt, wie sein bisheriger Prozess aussah, um ein trans Mann zu werden, wobei er deutlich betont, dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist, vielleicht auch nie abgeschlossen sein wird.

Er erzählt unter anderem, wie es ist unter Mikrodysphorie zu leiden: Kleine, zum teil vielleicht auch gar nicht böse gemeinte Aussagen, welche das Gefühl von Unwohlsein im eigenen Körper verstärkt. Ähnlich wie Mikroaggressionen, ein Begriff, welcher oft in Bezug auf Rassismus erwähnt wird, sich hier nur auf Dysphorie bezieht. Die Art und Weise, wie das Umfeld auf Linus reagiert hat, hat mich einfach nur traurig gemacht. Wie können Menschen nur so denken? Gerade in sozialen Medien scheint die Anonymität selbst die letzten Hemmungen verschwinden zu lassen. Linus berichtet von seinen Gewalterfahrungen im Internet und wie schwierig es war, dagegen vorzugehen, da es «bei der Polizei überraschenderweise immer noch kaum Strukturen [gibt], um Menschen, die Opfer digitaler Gewalt werden, zu schützen» (S. 127).

Dennoch hat Linus’ Geschichte so viele schöne Seiten, welche mich sehr berührt haben. Es gab Menschen, die ihn unterstützt haben oder für ihn einfach nur da waren, ohne ermüdende Fragen zu stellen. Obwohl ich als heterosexuelle cis Frau vermutlich nie verstehen werden, wie es ist trans oder nichtbinär zu sein, konnte ich viele Gedanken und Gefühle nachvollziehen. Linus spricht vom «eggmode», da ein Ei, aus welchem noch geschlüpft werden muss oder kann, eine ideale Metapher für das Outen zu sein scheint (vgl. S. 165).

Sehr aufklärend war für mich das Kapitel «Sprache», in welchem er über Begrifflichkeiten hinweist und punkto Sprache sensibilisiert. Was mich sehr beruhigt hat, war, dass ihm bewusst ist, dass es sehr viele Menschen gibt, die zu wenig Hintergrundwissen haben und somit auf gewisse Themen (noch) nicht sensibilisiert sind. Viele Aussagen sind somit nicht böse, im Gegenteil sogar gut gemeint, doch können trotzdem rücksichtslos und verletzend sein. Dieses Thema diskutiere ich immer wieder mit Freunden oder Mitstudierenden sobald es um das Thema Diskriminierung und Gewalt geht. Ich bin natürlich nicht der Meinung, dass Nicht-Wissen eine Entschuldigung ist, aber ich denke, dass diskriminierende oder verletzende Aussagen identifiziert und behandelt werden müssen – unabhängig davon, ob die Aussage mich selbst oder jemanden anders betrifft.

Als Linus schrieb, dass die meistens trans Menschen nicht mit ihrem «Deadname», dem alten Namen, welchen sie nicht selbst ausgesucht haben, angesprochen werden wollen, wurde bei mir eine Erinnung wach: Eine Person, welche ich im Kindesalter kennenlernte, traf ich nach langer Zeit wieder. Damals als Kind wurde die Person von allen als Junge gesehen und behandelt. Ich sprach die Person mit dem Deadname an, obwohl ich wusste, dass diese sich nicht oder nicht mehr als Junge/Mann bezeichnet. Später fand ich auf Instagram heraus, dass diese Person das Pronomen they/them verwendet. Das schlechte Gewissen hat mich aufgefressen. Es war dumme Gewohnheit und ich wusste nicht, wie sich die Person selbst bezeichnen würde und ganz ehrlich, ich weiss es heute noch nicht genau. Abgesehen davon verwendete ich im Allgemeinen Begriffe wie «das biologische Geschlecht» und wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dass diese Beschreibung unangemessen ist. Auch die Aussage «Diese Person ist im falschen Körper geboren» klingt sehr abwertend, worüber ich mir bisher nie Gedanken gemacht habe.

Ich bin als heterosexuelle cis Frau (Pronomen: sie) sehr privilegiert, da ich, so dämlich das jetzt klingen mag, den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen «entspreche». Mich hat es verstört zu lesen, dass Menschen gar zu stolz sind, sich als «cis» zu bezeichnen. Ist doch gut, dachte ich, dass es auch für mich ein passendes Adjektiv gibt.  Aber ganz ehrlich, und dafür schäme ich mich: Ich hatte keine Ahnung, was das Wort genau bedeutet. Wozu auch? Ich brauche den Begriff im Alltag gar nicht. Dabei hätte ich es nur mal bei Google eintippen können. Nun weiss ich es dank Linus. Traurig, aber wahr. Dies zeigt, das cis Personen sich nicht spezifisch äussern bzw. betiteln müssen, da es als «selbstverständlich» gilt.

In einer Online-Weiterbildung, an welchen ich teilnahm und in welcher es um das Thema «Vielfalt in der Jugendarbeit» ging, haben sich zu Beginn alle vorgestellt, und zwar mit dem Namen UND dem Pronomen, mit welchem man angesprochen werden möchte. Zu Beginn war ich etwas perplex, da dies für mich eine völlig neue Erfahrung war, doch ich war gleichzeitig hell begeistert davon: So einfach könnte es gehen!

Ich könnte noch ewig weitere Inhalte und Gedanken zum Buch niederschreiben, doch stattdessen: lest es doch einfach selbst!

 

Kommentar:

Ein unfassbar starkes Buch, welches definitiv zu meinen Jahreshighlights gehört. Die Geschichte von Linus hat mich sehr berührt und mich zudem viel Neues gelehrt. An dieser Stelle möchte ich mich bei Linus bedanken, dass er seine Geschichte mit der Öffentlichkeit teilt, obwohl er in keinster Weise dazu verpflichtet ist. Danke für die Aufklärung, obwohl es ermüdende Arbeit ist.

Der Schreibstil ist einfach und fliessend, ich bin nur so durch die Seite geflogen. Neben ernsten Themen, persönlichen Erfahrungen gibt es zwischendurch Wissensvermittlung und natürlich auch eine Prise Humor.

A book you have to read!

 

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